Das Reisen mit Kleinkindern ist ohnehin schon eine besondere Herausforderung. Eltern von ADHS betroffenen Kinder sehen sich vor eine ungleich schwerere Aufgabe gestellt. Viele vermeiden derart große Familienaktionen von Vornherein. Muss das wirklich sein? Eine gute Planung vorausgesetzt, profitieren gerade Menschen mit Aufmerksamkeitsstörungen von der Vielfalt des Reisens.
Stärken nutzen, Schwächen Raum geben
Elternängste
Dennoch sind die Befürchtungen der Eltern zu Reisen mit ADHS-Kindern in einem gewissen Kontext durchaus nachvollziehbar und an einigen Urlaubsorten sogar mehr als angebracht. Die Kinder reagieren impulsiv und von daher für den verantwortlichen Erwachsenen oft unvorhersehbar. Ist man selbst fremd und sich der örtlichen Gepflogenheiten nur unzureichend bewusst, führt einen dieses Verhalten schnell in unangenehme Situationen oder kann sogar gefährlich werden. Angewohnheiten wie Klettern, anhaltender Bewegungsdrang und Absonderungstendenzen sind schon im normalen Alltag fordernd, Wutanfälle keine Seltenheit.
Die Eltern können sich in der Regel schlicht nicht vorstellen, dass unter diesen Bedingungen eine entspannte Auszeit möglich sein soll. Zumal Betroffene, die ihr gesellschaftliches Verhalten sehr gut kontrollieren können, häufig dennoch mit Besonderheiten in der Wahrnehmung zu kämpfen haben. Sie benötigen Raum, um eintreffende Reize zu verarbeiten und reagieren mitunter stark auf Umgebungswechsel, unbequeme Situationen (Kleidung, Matratzenstärke…) oder unbekannte Wahrnehmungsqualitäten(Temperatur, Geschmack…).
Was bei diesen Gedankengängen gern vergessen wird, sind die besonderen Stärken der betroffenen Kinder.
Raus aus dem Alltag
Menschen mit derart offenen Wahrnehmungssystemen sind erlebnisintensiv und bei jedem Abenteuer ganz bei der Sache. Sie erleben beim Erschließen neuer Welten eine optimale Anforderungssituation. Bekommen sie Situationen geboten, die rein dem Entdecken dienen und ohne Zeitdruck daherkommen, sind ADHS-Kinder dankbare Reisebegleiter, die mit ihrer Neugier gern sämtliche Miteisende anstecken.
Zudem bieten neue Umgebungen und fremde Menschen den Bonus der Vorurteilsfreiheit. Vielleicht hat Ihr Nachwuchs schon mehr gelernt, als Sie ihm zu trauen. Die ganze Familie steckt nur so sehr im Alltagstrott, dass negatives und erwartetes Verhalten unter den regulären Bedingungen nicht gebrochen werden kann. Angesichts unbekannter Menschen spielt vergangenes Fehlverhalten keine Rolle und neue Kontakte können völlig ungehemmt geschlossen werden. Das Kind erhält die Chance auf vorbehaltlose Anerkennung. Es muss nichts leisten, darf einfach sein. So wird das Reisen mit ADHS für Ihr Kind zur Chance, denn es erhält eine optimale Gelegenheit, seine sozialen Fähigkeiten zu stärken.
Folgen Sie dem inneren Kompass Ihres Kindes
Ein gut gewählter Urlaubsort erlaubt dem Nachwuchs seinem Entdeckerdrang nachzukommen und regelmäßige Bewegungsangebote wahrzunehmen, die das Körpergefühl merklich verbessern können. Wer sich selbst spürt, wird geschickter und bewegt sich bewusster. Weniger Fehler sorgen für weniger Frustration und eine gelassene Grundhaltung, die durchaus ins Alltagsleben übertragen werden kann.
Zudem haben Sie alle im Urlaub mehr Zeit füreinander und können sich gelassener begegnen. Dies kann konfliktreiche Beziehungen regulieren. Sie erhalten die Chance, Ihr Kind außerhalb des schulischen Leistungsdrucks und gesellschaftlicher Zwänge als die Person zu erleben, die es ist und sein möchte.
Die Liebe zum Detail
Viele ADHS Betroffene haben einen erstaunlichen Blick für Details und spannende Begebenheiten. Sie finden auf Wanderungen besondere Steine, entdecken im Gebüsch verborgene Tiere und seltene Pflanzen. Zudem stellen sie Fragen, auf die andere nie kämen und motivieren so in kürzester Zeit ganze Reisegruppen zu ausgefallenen Diskussionen oder unerwartet spannenden Unternehmungen.
Planen Sie Ihren Urlaub so, dass Sie sich auf die Besonderheiten Ihres Kindes einlassen können. So schaffen Sie die Ausgangsbedingungen für echte Erholung und viele positive gemeinsame Erlebnisse, die Ihre Beziehung und Ihr gemeinsames Alltagserleben dauerhaft stärken können.
Das sollten Sie beachten
Besondere Bedürfnisse einplanen
Die Voraussetzung ist jedoch immer, die Bedürfnisse Ihres Kindes im Blick zu behalten. Sind Sie gut vorbereitet und können in jeder Situation Ruhe vermitteln, sind Sie auf der sicheren Seite. Es gilt, die Balance zwischen aktiven und inaktiven Phasen zu bewahren. Wechseln Sie nach spannenden Stadtausflügen in Museen oder Freizeitparks generell zu ruhigen Naturerlebnissen und freiem Spiel.
Die Tagespläne sollten dabei nie zu eng gefasst sein und Platz für spontane Aktivitäten und längere Entdeckungs- und Beobachtungstouren lassen. Halten Sie regelmäßige Mahlzeiten und gesunde Snacks bereit. Ausgelassene Mahlzeiten führen zu Energiedefiziten und diese zu Unzufriedenheit und Symptomsteigerung.
Kommunikation
Besprechen Sie Zeitpläne und gestalten Sie verlässliche Absprachen, im Sinne der einen Kugel Eis am Tag oder des festen Taschengeldbetrages für Veranstaltungen. So ist der Spielraum klar abgesteckt und Sie vermeiden Auseinandersetzungen und Irritationen.
Behalten Sie strukturierende Elemente im Tagesablauf bei. Nehmen Sie die gleichen Mahlzeiten ein wie üblich und folgen sie Frühstücks- und Bettzeitroutinen. Diese Maßnahmen verkürzen die Eingewöhnungsphase und vermitteln dem leicht erregbaren Nervensystem Ihres Kindes Konsistenz und Ruhe.
Besonderer Anforderungen in Menschenmengen
Informieren Sie sich vor Ausflügen über Bewegungsmöglichkeiten und Ruheplätze. Wählen Sie nur in Ausnahmefällen stark reizüberflutende Unternehmungen wie Jahrmärkte oder Freizeitparks und in keinem Fall an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Lassen Sie Ihr Kind immer wieder zur Ruhe kommen und suchen Sie bei aufregenden überfüllten Veranstaltungen immer wieder bewusst Ruhezonen und Spielplätze mit Kletter- oder Springmöglichkeiten auf, um den Kleinen Gelegenheit zu bieten, neue Reize adäquat zuverarbeiten.
Erreichbarkeit
Bleiben Sie zudem bei allen Unternehmungen ansprechbar für Ihr Kind. Lassen Sie es in fordernden Situationen nicht unbeaufsichtigt, um spontane Aktionen zu vermeiden, in deren Verlauf es in einer unbekannten Umgebung davon stürmen könnte. Besprechen Sie mit größeren Kindern Erreichbarkeiten wie Handynummern und die Adresse der Ferienunterkunft. Kleinkinder können ein Dokument mit wichtigen Kontaktdaten bei sich tragen.
Im Gedränge touristisch stark besuchter Städte und unter Einfluss neuen Eindrücke geht eher mal etwas schief. Verzeihen Sie typische Fehler, bleiben Sie aber konsequent was die alltäglichen Absprachen betrifft. ADHS-Kinder fühlen sich sonst schnell getriggert, eigentlich gefestigte Grenzen neu auszutesten.
Die optimale Anreise
Lange Reisezeiten, die hauptsächlich im Sitzen verbracht werden, sind für alle Menschen anstrengend. Jungen und Mädchen mit einem starken Bewegungsdrang kommen bei mehrstündigen Autofahrten, auf Bahn- oder Flugreisen regelrecht um. Ist das Urlaubsziel sehr weit entfernt, versuchen Sie dieser Problematik entgegenzukommen.
Pausen einlegen
Auf Autofahrten bieten sich Zwischenstopps und Bewegungspausen an. Hier und auch bei Zugfahrten haben sich Etappenreisen mit einer Hotelübernachtung als vorteilhaft erwiesen. Die Reisezeit selbst ist idealerweise mit Musik, Hörgeschichten oder kleinen Reisespielen gefüllt. Erwarten Sie nicht von Ihrem Kind, vier Stunden lang „artig“ auf dem Rücksitz zu verbringen. Bleiben Sie in Entscheidungen zur Pausengestaltung und den Mitfahrerregeln transparent und konsequent. Begründen Sie spontane Abweichungen direkt.
Es kann außerdem sinnvoll sein, das Gepäck vor Fahrtantritt ausführlich auf Vollständigkeit zu prüfen und wichtige Dinge für die Kleinen greifbar zu verstauen. Sie entgehen voreiligen Panikreaktionen, wenn feststeht, dass alles da ist und wo es ist. Ist der Verbleib wichtiger Habseligkeiten geklärt, müssen Sie nicht mitten auf der Autobahn anhalten, weil Ihr Großer annimmt, sein Ladegerät vergessen zu haben und ohne Handy nicht leben kann, während der kleine Bruder das überlebenswichtige Plüschtier denkt im Bad vergessen zu haben.
Medikamente
Nimmt Ihr Sohn oder Ihre Tochter regelmäßig Medikamente, kontrollieren Sie diese unbedingt vor der Abfahrt auf Vorhandensein und Vollständigkeit. Versuchen Sie, von allen Präparaten etwas mehr dabei zu haben, als für den geplanten Urlaubszeitraum notwendig. Dadurch sind Sie auf Planabweichungen eingestellt.
Reisebestimmungen
Gerade bei Flugreisen empfiehlt es sich, die Medikamente auf mehrere Taschen zu verteilen, falls ein Gepäckstück abhandenkommt.
Informieren Sie sich außerdem über Einfuhrbestimmungen fremder Länder und haben Sie einen Plan b, falls Sie am Urlaubsort neue Medikamente beschaffen müssen. Es kann sein, dass in Ihrem Urlaubsland nur ein ähnliches nicht aber das elbe Präparat erhältlich ist.
Starke Zeitverschiebungen oder Routineabweichungen verändern das bei Menschen mit ADHS allgemein schon angeschlagene Zeitgefühl. Sie können sich einen Timer stellen, um regelmäßige Einnahmezeiten im Blick zu behalten.
Urlaubsziele
Ideal sind Urlaubsziele, die viel Bewegungsfreiraum bieten. Ihr Sprössling sollte seine Umgebung frei erkunden können, Bäume zum Klettern und Altersgenossen zum Spielen vorfinden. Bestenfalls ohne konsequent beaufsichtigt werden zu müssen. Ziele fernab der Zivilisation können genauso attraktiv sein wie Feriendörfer. In der Natur bietet sich Ihnen ein abwechslungsreiches Bewegungsprogramm mit vielen individuellen körperlichen Herausforderungen. Umstände, unter denen Ihr Kind in der Lage sein wird, sich auch auf die Stille einzulassen und womöglich ganz neue Seiten an sich zu entdecken.
Stadt oder Land?
Im städtischen Raum ist die Balance womöglich etwas schwerer zuhalten. Filigrane Hotels, teure Ferienhäuser mit hoch spezialisierter Technik und teuren Designermöbeln schließen sich zwar nicht aus, bergen jedoch ein gewisses Konfliktpotenzial hinsichtlich des ausführlichen Regelwerkes.
Die meisten Kinder reagieren sehr entspannt darauf, wenn sie einen großen Teil des Tages einfach sie selbst sein dürfen. Ohne Leistungsdruck, enge Regeln und enorme Rücksichtserwartungen. Suchen Sie Orte auf, an denen der Nachwuchs auch mal laut und wild sein darf, wie Bauernhöfe im Mittelgebirge, Zeltplätze an der See oder das abseits gelegene Ferienhaus Teutoburger Wald.
Aktivitäten
Weite Strände oder Wald- und Wiesenlandschaften mit nahe gelegenen Sportmöglichkeiten erscheinen ideal. Wandern, Reiten, Radeln, Windsurfing sind ideale Aktivitäten, um die eignen Kräfte zu erproben und sich seiner körperlichen Grenzen gewahr zu werden.
Versuchen Sie Ihrem Kind ein eigenes Zimmer zu organisieren, in das es sich bei Bedarf zurückziehen kann. Trauen Sie ihm vor allem zu, mit der Situation umgehen zu können. Dadurch schaffen Sie in der Regel die besten Voraussetzungen, um ein entspanntes Reisen mit ADHS zu ermöglichen.